Bald: Glänzende Aktionstage

Erklärung der VIELEN zu den GLÄNZENDEN AKTIONSTAGEN 8./9. Mai 2020

DIE VIELEN VERSAMMELN SICH IN DER ZERSTREUUNG

Berlin, April 2020

DIE VIELEN haben sich als Zusammenschluss für die Sicherung der Kunstfreiheit in Offenheit und Vielfalt gegründet und sind in den letzten drei Jahren zu einem länderübergreifenden offenen Zusammenhang zwischen zahlreichen Kunstinstitutionen, Aktiven der Kulturlandschaft und freien produzierenden Künstler*innen geworden. Mitten in der Vorbereitung für die GLÄNZENDEN AKTIONSTAGE am 8. und 9. MAI 2020 steht die Bewegung in einer vorhersehbaren wie urplötzlichen globalen Krise, in Form einer gesundheitlichen Gefährdung für viele Menschen weltweit.

Nun stehen wir vor den sichtbaren Abständen zwischen unseren Leben und sehen wie schon lange nicht mehr, was unter der Oberfläche unserer globalen Alltagsrealität verborgen ist. Wir sehen die gravierenden Unterschiede der divergierenden nationalen Entscheidungen über Leben und Tod. Wir erleben zeitgleich die Ungerechtigkeiten der sozioökonomischen globalen Verhältnisse, die Rückkehr und Festigung der nationalen Grenzen. Eine Safe-Space-Nationalstaatlichkeit, in der Reisende heim ins Land geholt werden, während schutzbedürftige Geflüchtete sich selbst überlassen bleiben. Wir erleben auch die Widersprüche unter den Aktiven in der Kunst, zwischen denjenigen, für die eine freischaffende Tätigkeit mit zum Freiheitsbegriff der Kunst gehört und jenen, welche die Kulturlandschaft und die Freiheit der Kunst institutionell sicherstellen.

Die Kultur als relevanter gesellschaftlicher Faktor ist in eine unbestimmte Pause geschickt. Ohne Publikum und Besucher*innen harrt die Kunst im Warteraum. Wir reiben uns die Augen und fragen: War die Kunstfreiheit real? Was bedeutet dieser Zustand für die Kunstfreiheit, was für die Kunst der Vielen und jeder*s Einzelnen? Ist es nicht gerade jetzt wichtig, sich die Kunstfreiheit zu nehmen, um auch außerhalb der gewohnten institutionellen Rahmen seiner Kunst und Haltung Raum zu verschaffen? Sich international zu vernetzen und zu solidarisieren?

Der Notstand zur Eindämmung der Pandemie schränkt Grund- und Freiheitsrechte wie das Versammlungsrecht bis weit in die persönliche Selbstbestimmung ein. Dabei sind sich die Regierungen nicht nur der Unterstützung der Opposition, sondern – sicherlich nicht zu Unrecht – von weiten Teilen der Bevölkerung sicher. Zurzeit ist der Parlamentarismus auf die Beschleunigung von notwendiger Abstimmung von Gesetzen zur Sicherung von Wirtschaft, Gesundheit und Schadensbegrenzung fixiert. Achten wir jedoch nicht nur auf uns und die Gesundheit aller, sondern auch darauf, dass diese Beschränkungen nicht dauerhafte Veränderungen der Grund- und Freiheitsrechte mit sich bringen, nicht bei uns und auch in keinem anderen Land.

Selten wurde so deutlich, dass politisches Handeln auch die Macht über Leben und Tod ist und das gilt vor allem mit Blick auf die EU-Außengrenzen, den Geflüchteten in Lagern und den Schutzsuchenden auf dem Mittelmeer - nicht erst seit Beginn der Pandemie. Gesundheit hat zu Recht einen hohen Stellenwert. DIE VIELEN beharren auf der Unversehrtheit und Würde aller, innerhalb und außerhalb Europas.

Im Angesicht einer Pandemie, einer globalen Klimakrise und weltweiter Migration hilft keine enge nationalstaatliche Sicht, auch das gegenwärtige Europa zeigt sich als ein schlechter Versuch einer multinationalen Zusammenarbeit. Die globalen Aushandlungsmöglichkeiten haben keinen nationalen Souverän - in translokalen Zeiten eines internationalen Zusammenlebens sind wir VIELE. In Deutschland leben mehr als zehn Millionen Menschen ohne deutschen Pass1, in vielen Ländern ist die Bevölkerung multinational geprägt, die Bewohner*innen müssen auf der Ebene der Regionen, Länder, Kontinente mitentscheiden können! Ein ‚Recht auf Rechte‘ darf nicht an die

1 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/04/PD19_149_12521.html

Passzugehörigkeit gebunden sein, sondern muss für jede*n dieser Erde in Form der Grundrechte wie eines Wahlrechts an seinem Lebensort Gültigkeit erhalten.

Europa war eine Antwort auf den ersten und zweiten Weltkrieg, den völkische Nationalisten, Faschisten und Rechtsextreme geführt hatten, begleitet von Motiven wie Antisemitismus, Rassismus, Xenophobie, Homophobie und vielfältiger Diskriminierung von politischem oder kulturellem Leben. Am 8. Mai 1945 endet diese Kriegszeit in Mitteleuropa mit der Befreiung und Niederschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands. Fünf Jahre später wurde am 9.Mai 1950 die EU gegründet (Schuman-Erklärung). Zwei wichtige Daten für Erinnerung an Widerstand, Befreiung in Solidarität der Alliierten und den Versuch, die nationalstaatliche Verfasstheit der Länder nicht als die einzige Form der politischen Aushandlung anzusehen. Heute appelliert der UN-Generalsekretär António Guterres in bemerkenswerter Weise an den Frieden in der Welt angesichts der Gefahren durch die Pandemie. 2 Es wird Zeit für die UNITED EARTH, den Weltfrieden und neue Aushandlungsprozesse, die nicht allein durch eine Logik des Ökonomischen geprägt sind, sondern so etwas wie das Gemeinwohl aller in den Blick nehmen und auf Gleichberechtigung beruhen. DIE VIELEN stehen dafür, dass nach dieser globalen Krise nicht mehr alles so weiter laufen darf wie bisher! Es ist Zeit bei uns anzufangen: in unserer Region, unserem Land, Kontinent – zugleich gilt es, nicht auf diese Orte und Länder fixiert zu bleiben, sondern die Vielen im Blick zu haben. Die VIELEN suchen nach neuen Wegen für eine derartige transnationale Gesellschaft, angefangen bei uns selbst, der Kunst und Kultur, bis in die globale Vernetzung.

Angesichts der offenen Fragen zu regionaler Produktion, Versorgung mit Nahrung und der Zugänglichkeit von Gesundheitsbedarf, erleben wir, was Fixierung auf ökonomische Vorteile Weniger bedeutet. Die großen Unterschiede in der sozialökonomischen Gerechtigkeit zwischen den Ländern, den Menschen, auch zwischen uns in der Kultur liegen offen: so ist die Freiheit von Formaten, Experiment und Scheitern zu häufig auf der Grundlage prekärer Lebenssituationen aufgebaut. Die Frage nach der Diversität von Bewohner*innen und der Repräsentation in der Kunst- und Kulturlandschaft ist keinesfalls gelöst. Das sind zwei konkrete Felder, in denen die Aktiven in der Kunst zeigen können, wie sie als Forschungslabor für die zukünftige, demokratische offene Gesellschaft agieren und mit vielen Institutionen, Kunst- und Kulturorten, auf dem Weg der Kunst, die einen Raum zur Veränderung der Welt schafft, weiter vorangehen.

Am 8. Mai 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung und der Niederschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands, von 18 Uhr bis 24 Uhr, und am 9. Mai, ab 12:34 Uhr zum 70. Jahrestag der Europäischen Union, schaffen DIE VIELEN einen Möglichkeitsraum, eine Versammlung in der Zerstreuung. In über 32 Städten finden Aktionen im Stadtraum, in den Kulturorten, im Internet statt. Hunderte Menschen werden eine alternative „Europahymne der VIELEN“ singen, in ihren Wohnzimmern, auf den Balkonen, den Streams: Wir fordern dazu auf, niemanden zurückzulassen - nicht an den Grenzen, nicht in der Krise der Pandemie und nicht in den Wohnungen!

Die nächsten Glänzenden Aktionstage sind wieder um den 9. November 2020 und in einem Jahr werden wir wieder auf den Straßen Europas am 8.Mai 2021 den Tag der Befreiung freudig erinnern und am 9. Mai für ein offenes EUROPA DER VIELEN streiten.

WIR SIND VIELE JEDE*R EINZELNE VON UNS!

Die Vielen e.V. Mariannenplatz 2, 10997 Berlin Vorsitzende*r Holger Bergmann

Tag der Befreiung

»Der 8. Mai muss ein Feiertag werden. Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS- Regime gefeiert werden kann«, schrieb Esther Bejarano, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in Deutschland, Überlebende von Auschwitz und Ravensbrück, in einem Offenen Brief zum 27. Januar 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee an Bundespräsident Steinmeier, Bundeskanzlerin Merkel und „alle, die wollen, dass Auschwitz nie wieder sei“. Ein solcher Feiertag würde helfen, »endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes«, so Bejarano, die 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden war und dort im Mädchenorchester spielte. Später zwangen die Nazis sie, auf einen der sogenannten Todesmärsche zu gehen, bei dem sie iehen konnte.

Vierzig Jahre lang wurde in der Bundesrepublik Deutschland über das Kriegsende nur als „Zusammenbruch“ gesprochen. Erst die historische Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard v. Weizäcker am 8. Mai 1985 hatte dazu geführt, dass sich die of zielle Bezeichnung änderte.

Zehn Jahre später, zum 50. Jahrestag der Befreiung, wurde dieses Datum schließlich an verschiedenen Orten gefeiert, z. B mit einer großen Gala am Hamburger Thalia-Theater, die live im ZDF übertragen wurde und einem Bürger*innenfest auf dem historischen Paulsplatz in Frankfurt/M. Seit ein paar Jahren ist der Gedanke der Befreiungsfeier an verschiedenen Orten wieder aufgenommen worden, wie z.B. in Wien, wo das Mauthausen-Komitee jedes Jahr am 8. Mai ein „fest der freude“ auf dem Heldenplatz ausrichtet.

In diesem Jahr ist der 75. Jahrestag der Befreiung vom NS-Faschismus in Berlin zum einmaligen gesetzlichen Feiertag erklärt worden. Wir fragen uns: Warum nur in Berlin? Und warum nur einmalig? Wäre es nicht an der Zeit, diesen Tag bundesweit zum gesetzlichen Feiertag zu erklären? „Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten!“ meint Esther Bejarano.

Die Kulturinitiative der VIELEN, die für den 8./9. Mai zu „Glänzenden Aktionstagen“ aufrufen, unterstützen Esther Bejarano aus ganzem Herzen! Wir fordern die Unterzeichner*innen der ERKLÄRUNG DER VIELEN, fast 3500 Kunst- und Kulturinstitutionen, sowie alle Aktiven der Künste auf, sich gemeinsam mit den DGB-Gewerkschaften und vielen anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen für die Einführung des 8. Mai als neuen gesetzlichen Feiertag einzusetzen und so viele Stimmen wie möglich zu sammeln! Bei den „Glänzenden Aktionstagen“ am 8./9. Mai 2020 werden wir die ersten Unterschriften dem Bundespräsidenten, der Bundesregierung und den Abgeordneten des Bundestages in Berlin symbolisch übergeben.

Wir glauben, es ist Zeit zu zeigen, dass die Bewohner*innen der Bundesrepublik bereit sind, eine Erinnerungskultur aus vielfältigen Perspektiven zu schaffen, um am 8. Mai gemeinsam die Befreiung zu feiern. Bietet doch dieser Tag die Gelegenheit, »über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken“, wie Esther Bejarano schreibt: „Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - und Schwesterlichkeit.“ Damit Auschwitz nie wieder sei – und dieses Land sich ändert!

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