Robin Wasserman | Wired

Aus dem Amerikanischen von Claudia Max.
ab 16 | erschienen September 2011, Script 5 | 380 Seiten | ISBN 978-3-8390-0115-8

Als Taschenbuchausgabe bei Ravensburger | 384 Seiten | ISBN-13: 978-3473584703

Keywords: Science Fiction, Dystopie, Coming of Age, Bildungsroman, Gesellschaftsroman, Jugendliteratur

Inhalt: Nach dem gewaltsamen Zusammenstoß mit der Bruderschaft in Crashed tritt Lia nun als Botschafterin von BioMax auf, um für Toleranz und Verständnis für die Mechs zu werben. Viele Mechs stehen ihrem Engagement kritisch gegenüber. Ein grausamer Zwischenfall – bei dem Rileys Identität unwiderruflich ausgelöscht wird - macht Lia schließlich klar, dass BioMax doppeltes Spiel mit ihr spielt. Wenig später finden die Mechs heraus, dass BioMax ihre virtuellen Identitäten benutzt hat, um Kriegsmaschinerie mit künstlicher Intelligenz zu produzieren. Da ihnen die Mechs zunehmend lästiger werden, plant der Konzern den letzten Schlag: die komplette Vernichtung aller virtuellen Mech-Identitäten. Unter dem Vorwand helfen zu wollen, treibt BioMax die Mechs in konzentrationslagerähnliche Einrichtungen, um am Tag X sämtliche Daten zu löschen und die Mechkörper zu entsorgen. Jude und Lia unternehmen einen verzweifelten Rettungsversuch. Beim großen Showdown in einer der gigantischen Serverfarmen muss sich Lia jedoch der Wahrheit stellen: Sie kann die Mechs gegen den übermächtigen Konzern nicht retten. Aber: Sie kann zum virtuellen Weltgewissen werden…

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Schluss mit Geheimnissen
»Sei einfach unwiderstehlich.«

Das ist alles nicht echt.
»Das ist alles echt«, sagte ich, weil die Stimme in meinem Kopf mir das so befahl. Weil Maschinen Befehle befolgen und ich eine Maschine bin.
Das bin nicht ich.
»Das bin ich«, sagte ich. Weil man mir das Lügen einprogrammiert hatte.
Man sieht alles, nur das Entscheidende nicht.
»Was drauf steht, ist auch drin«, sagte ich lächelnd.
Was man sieht: perfekte Lippen, zu einem perfekten Lächeln verzogen. Perfekte Haut, die sich straff über einen perfekten Körper spannt.
Was man sieht: Hände, die zugreifen, Beine, die sich beugen, Augen mit verständnisvollem Blick.
Man sieht eine Maschine, die die Rolle spielt, für die man sie gebaut hat. Man sieht eine lebende Tote. Man sieht einen Freak, einen Tabubruch, eine Sünde, eine Heldin. Man sieht eine Mech; man sieht einen Skinner. Man sieht, was man sehen will.
Nur mich sieht man nicht.
»Es macht dir also nichts aus, dass Tausende von Menschen dich auf Schritt und Tritt beobachten?«, fragte die Interviewerin. Sie schwitzte unter dem Licht der Scheinwerfer – ich nicht. Maschinen schwitzen nicht und frieren nicht; wir stehen Dinge durch. Diese Moderatorin stand im Ruf, ihre Interviewpartner reihenweise zum Heulen zu bringen, aber in meinem Fall hätte sie vermutlich eher einem Toaster Tränen entlockt. Sie musste also mit etwas anderem aufwarten. Musste besonders viel Gefühl zeigen, um meinen Mangel an selbigem auszugleichen. Brauchte feucht schimmernde Augen, im passenden Moment rosige Wangen, um Wut oder Leidenschaft anzudeuten, und ein wirkungsvolles Schaudern, wenn wir über die wirklich blutigen Details sprachen: was nach dem Unfall kam, das Hochladen matschiger Hirnmasse in sterile Hardware, das Sterben und Wiedererwachen. Ich muss zugeben, dass sie eine bessere Show abzog als ich. Andererseits lässt sich Menschlichkeit natürlich
leichter spielen, wenn man tatsächlich ein Mensch ist.
»Hast du nicht das Gefühl, dass du für uns eine Show abziehen musst? Willst du nicht auch etwas für dich behalten, etwas, das nur dir gehört?«
Künstliche neuronale Synapsen feuerten; elektrische Impulse sausten durch künstliche Kanäle und verpassten künstlichen Nervenzellen einen elektrischen Schock. Meine perfekten Schultern zuckten. Meine perfekte Stirn verzog sich zu einem Stirnrunzeln, das einer menschlichen Gefühlsäußerung ziemlich nahekam.
»Warum sollte ich?«, fragte ich.
Seit zwei Wochen ging das jetzt so. Zwei Wochen, in denen ich mich für sie auftakelte und vor ihren Kameras posierte, ihre Worte nachsprach, ihre Befehle befolgte. In denen ich mich immer tiefer in
mich verkroch und verzweifelt nach einem versteckten Zufluchtsort suchte, in den ihre Kameras nicht eindringen konnten, irgendeinen dunklen und sicheren und leeren Ort, der nur mir gehörte.

Reiß die Augen auf.
Leg den Kopf schief.
Lächle.
»Ich habe ja nichts zu verbergen.«

Tag eins.
»Die Befehle werden direkt in dein auditorisches Zentrum geleitet und es wird sich anhören, als käme die Stimme aus deinem Kopf«, erklärte Ben und prüfte ein letztes Mal die Ausrüstung, ganz der Mitarbeiter der Woche, als den ich ihn kannte. Der beste Ausbesserer kaputter Mechs bei BioMax – Ausbesserer, Wartungsprofi , gelegentlich Konstrukteur, aber nicht Arzt, darauf legte er großen Wert. Ärzte kümmerten sich um echte, lebendige Orgs, Ben hingegen brachte kaputte Maschinen in Ordnung, die bloß wie Menschen aussahen. In den letzten sechs Monaten hatte sich jede Einzelheit in meinem Leben bis zur Unkenntlichkeit verändert, nur Ben war der Alte geblieben: dieselben geschmacklosen, geschniegelten Anzüge, dasselbe gegelte Haar, dieselbe maskenhafte Attraktivität. Dieselbe Masche falscher Bescheidenheit, so nach dem Motto: Ach, Quatsch, ich bin überhaupt nicht wichtig, niemand, vor dem man Angst haben muss, ganz bestimmt niemand, der dir etwas verheimlichen oder dich beeinflussen und erpressen oder über Leben oder Tod deines erstaunlich naturgetreuen Körpers entscheiden würde. Ich bin einfach ein Typ wie jeder andere, du kannst mich also Ben nennen.
»Manche Leute lassen sich von der Stimme verunsichern –«
»Ich komm damit schon klar«, erwiderte ich knapp. Ich hatte bereits früher Stimmen in meinem Kopf gehabt. Zu den zahlreichen Vorzügen, die das Dasein als Mech bot, gehörte die Möglichkeit, »sich aufrüsten« zu lassen. Zum Beispiel mit einem neuronalen Implantat, über das ich lautlos mit anderen Mechs sprechen und ihre Stimmen in meinem Kopf empfangen konnte. Oder mit Infrarotsicht und einem eingebauten Navi und all der anderen nichtmenschlichen Zusatztechnik, die man mir entfernt hatte, als ich wieder bei meinen Org-Eltern und meiner Org-Schwester einzog und vorgab, in mein Org-Leben zurückzukehren. Als könnte ich die Augen schließen, mir etwas wünschen und plötzlich wieder organisch sein, plötzlich wieder die lebendige Lia Kahn sein, die vor einem Jahr ins Auto stieg, auf die Autobahn fuhr, in einen Speditionslaster krachte und in tausend verkohlte, blutige Stücke zerfetzt wurde.
»Ich will sichergehen, dass du verstehst, wie alles funktioniert«, fuhr Nenn-mich-Ben gewohnt penetrant fort. »Wenn es erst einmal losgeht, haben wir keine Gelegenheit mehr, uns so zu unterhalten.«
»Wie bedauerlich.«
Er überhörte meine Bemerkung. »Falls du noch Fragen hast, frag lieber jetzt.«
»Wenn Lia sagt, dass sie damit klarkommt, dann kommt sie damit klar.« Das war Kiri Napoor, die PR-Chefin und sozusagen mein persönlicher Draht zu den Mächtigen von BioMax. Sie zwinkerte mir zu, das hieß in Kiri-Sprache: Ich weiß, er ist ein Langweiler, aber spiel einfach mit.
Kiri war mein Wachhund und dafür verantwortlich, dass ich hundertprozentig die Konzernpolitik vertrat. Als sie mir das erste Mal von ihr erzählten, erwartete ich eine weibliche Version von Nenn-mich-Ben, irgendeine Labertante mit ordinären Extensions und straff gezurrter Haut, die ein paar Mal zu oft geliftet worden war, eine Nervensäge, die mir den ganzen Tag hinterherlaufen und jedes Wort von mir umgehend an die Oberherren bei BioMax weitertratschen würde. Stattdessen entpuppte sie sich als Kiri, mit glattem lila Haar, Dauergrinsen und einem unfehlbaren Geschmack, der punkig genug war, um sie unangestrengt cool aussehen zu lassen (Bei unserem ersten Treffen trug sie ein Etuikleid im Retro-Slumstil und dazu Stiefel, die mit dem Network verlinkt waren und Mangarock-Vids abspielten).
»Du hast behauptet, du willst den Mechs helfen«, hatte sie an jenem ersten Tag gesagt. »Also gehe ich davon aus, dass es dir ernst ist. Ich bin hier, um dir zu helfen, nicht um dir hinterherzuspionieren.«
Das klang sehr nach den Sprüchen, mit denen mich Nenn-mich-Ben volltextete, seit ich bei BioMax eingestiegen war. Aber bei Kiri deutete etwas in ihrer Stimme an, dass sie von dem Konzern ebenso
wenig hielt wie ich und dass es ihr mit dem Blödsinn, der aus ihrem Mund kam, nicht anders ging. Dann hatte sie Nenn-mich-Ben hinausgeworfen und ihm erklärt, künftig müsse er, wenn er mich nerven wolle, zuerst sie nerven. Damit war unser Deal besiegelt.
Nur wegen Kiri hatte ich mich überhaupt auf diese bescheuerte Aktion eingelassen. Es war ihre Idee gewesen, also konnte es nicht völlig daneben sein. Zumindest wollte ich das glauben, als sie mich
dazu überredete.
In einem VidLife aufzutreten bedeutete, mich mit Mikrokameras und Mikrofonen verkabeln zu lassen, sodass jeder, der Lust hatte, jede Bewegung von mir verfolgen konnte. Schlimmer noch, es bedeutete,
dass ich jede Rolle spielen musste, die meine Zuschauer von mir verlangten. Es war die perfekte Mischung aus Melodrama nach Drehbuch und totaler Realität, Tag für Tag, rund um die Uhr. So hatten sie es in der Werbung angepriesen, als es mit den VidLifes losging. Deine Lieblingsfiguren sprechen deinen Text, den du ihnen zuvor ins Ohr geflüstert hast, dröhnen sich mit deinem Lieblings­stimmungs­modifizierer zu, fangen was mit dem Typen an, den du gut findest, leben ihr Leben nach deinen Regeln und ruinieren es zu deiner persönlichen Unterhaltung.
Ich redete mir ein, das VidLife sei auch nichts anderes als das, was ich die letzten sechs Monate als Paradebeispiel einer rundum glücklichen Mech von BioMax gemacht hatte; als ich getan hatte, was sie
mir sagten, gesagt hatte, was sie mir befahlen, als ich bei Vorstandstreffen und Pressekonferenzen und Gesetzgebungsausschüssen gekatzbuckelt hatte; kurz: als ich an ihren Fäden hing. Angefangen hatte ich damit, weil mich mein Vater darum gebeten hatte, und noch immer machte ich gute Miene zum bösen Spiel und hielt mich an unseren Handel – ich bekam all den Bonus, den ich brauchte, um Riley zu helfen, und mein Vater bekam seine Tochter zurück. Oder zumindest einen annehmbaren Abklatsch derselben. Und nachdem ich die Pflichtauftritte absolviert hatte, um die er mich bat, machte ich einfach weiter. Ich war schon immer eine gute Schauspielerin gewesen und dieses Mal diente das Theater wenigstens einem guten Zweck.
Kleine Schritte, so sah der Plan aus. Überzeuge die Orgs davon, dass die Mechs keine Bedrohung darstellen, dass sie niemandem schaden wollen. Dass wir nicht anders sind als sie. Dass wir jung
und dumm sind – aber auch relativ reif. Sorglos, aber auch verantwortungsbewusst. Berechenbar, aber genau wie gleichaltrige Orgs anfällig für belanglose Zankereien und Partys. Es bedeutete, sich auf einem schmalen Grat zu bewegen und unterschiedlichen Zuhörern nach dem Mund zu reden. Kiri entwarf passgenau die nüchternen Vorträge, die ich vor Vorständen hielt, oder die Rolle als grinsende Idiotin, in die ich mich in Werbefi lmen verwandelte: Jede Figur wurde sorgfältig auf die Umstände abgestimmt – dass keine davon zu mir passte, war anscheinend egal.
Das VidLife ging mit der Schauspielerei noch einen Schritt weiter. Wir würden ihnen den Beweis liefern – Tag für Tag, in Farbe –, dass ich ebenso harmlos und oberflächlich wie eine durchschnittlich
ausgeflippte reiche Tussi war. Wir würden sie dazu bringen, sich über meine Streitereien und Flirts Gedanken zu machen, über heilige Pakte und Liebesverrat. Ohne sich dessen bewusst zu sein, würden
sie glauben, dass ich mir Gedanken machte, dass ich fühlte. Dass ich mich in den klein karierten Melodramen meines täglichen Lebens nicht von ihnen unterschied, oder zumindest nicht von den
anderen VidLifern. Bei BioMax gab es Mitarbeiter, die nicht nachvollziehen konnten, wie ich irgendjemand von meinem »wahren« Ich überzeugen wollte, indem ich eine Rolle spielte – aber das dachten nur die, die sich keine VidLifes ansahen. Die anderen kannten die peinliche Wahrheit. Gleichgültig, wie bewusst einem war, dass man lebenden Marionetten dabei zusah, wie sie die Fantasien der Massen auslebten – je länger man am Leben der VidLifer teilnahm, umso mehr kaufte man ihnen ihre Rolle ab. Denn darum ging es schließlich bei den VidLifes: die Fantasie zu vergessen und sie als Realität anzuerkennen. Den Unterschied zwischen »Reality« und »Wirklichkeit« zu vergessen.
»Fertig?«, fragte mich Nenn-mich-Ben.
Ich nickte und er tauschte ein paar Gesten mit dem VidLife-Vertreter, dann bedeutete er mir mit hochgehaltenem Daumen, dass alles in Ordnung war. Das war's. Willkommen im VidLife.
Nichts schien verändert. Nichts fühlte sich verändert an. Das Summen der Mikrokamera, die mir über die Schulter sah, hätte ebenso gut von einer Fliege stammen können.
Sei einfach unwiderstehlich, rief ich mir in Erinnerung und wartete darauf, dass etwas passierte. Bereitete mich darauf vor, zu strahlen und zu sprühen, harmlos und unwiderstehlich zu sein, die alte Lia Kahn, die nicht mit wiederaufladbaren Akkus betrieben wurde. Wir sind dieselben wie früher, log ich auf jedem Meeting mit breitem Keramiklächeln. Wir sind perfekte Kopien unseres früheren Selbst.
Wir sind genau wie ihr.
Als die Stimme schließlich sprach, klang sie ausdruckslos und austauschbar.
Im Wilding steigt eine Party, sagte die Stimme. Soweit ich wusste, war im Wilding immer Party. Der Club lief von früh bis spät auf Hochtouren und dann wieder bis früh: die Tänzer und Vollgedröhnten kapselten sich in einer Dauerfantasie ab. Such dir Klamotten und schau dir an, was abgeht.
»Wissen Sie was?«, fragte ich strahlend. »Ich hab Lust zu tanzen.
Vielleicht seh ich mich mal um, wo was läuft.«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, verdrückte ich mich aus dem bunkerähnlichen Büro und ging in Gedanken schon meine Kleider durch. Was wohl für das Wilding passte? Und was die Stimme wohl
von mir verlangte, sobald ich drinnen war?
Vor allem aber: Wer wohl zusah?

Tag drei.
Mechs werden nicht müde. Technisch gesehen brauchen wir keinen Schlaf. Natürlich müssen wir auch nicht essen und trinken oder die Beine hochlegen, wenn wir uns stundenlang mit schlenkernden Armen und zurückgeworfenem Kopf im flackernden Neonlicht drehen, während dröhnende Bässe die Wände wackeln lassen und der Boden unter den Füßen bebt, Körper sich an Körper pressen, klebrige verschwitzte, salzige Haut sich an Haut reibt – ich mittendrin. Zweiundsiebzig Stunden lang hatte ich im Wilding zugesehen, wie Tänzer herein- und hinausströmten, wie Quallen, die an Land gespült und dann wieder von der Flut hinausgezogen werden, erschöpft und ausgedörrt nach Stunden in der prallen Sonne. Bloß gab es hier im Wilding keine Sonne, keinerlei Hinweis darauf, dass die Zeit verging, oder dass außerhalb der mitternächtlichen Wände die Welt des Tageslichts existierte.
Im Wilding galt offenbar nur eine Regel: Alles ist erlaubt. Das kam mir gelegen, denn ich hatte mehr als genug Geschichten über Mechs gehört, die zusammengeschlagen worden waren, weil sie sich in Clubs zu schmuggeln versuchten, in die nur Orgs durften. Aber hier war die zugedröhnte Menge zu sehr mit ihrem Getanze, ihren Shockern, ihren Dreiern und Vierern, ihrem Gelecke, ihren Zungenküssen und ihren Prügeleien beschäftigt, um mitzubekommen, was ich in Wirklichkeit war, oder um sich darüber überhaupt Gedanken zu machen.
»Du brauchst einen Kerl«, brüllte mir Felicity mit einem Kichern, das fast echt klang, ins Ohr. Alles, was sie sagte, klang fast echt – dasselbe galt für Pria und Cally, die beiden anderen Stamm-VidLifer, die mich sofort in ihren Kreis aufgenommen hatten. Die Fly-Cams, die über unseren Köpfen surrten, leuchteten auf, sobald sie in Reichweite der anderen Kamera kamen, und wie auf Kommando lachten und quietschten die Lifer, strichen mir übers Haar, wirbelten mich in wilden Schleifen über die brechend volle Tanzfläche und schienen sich nicht daran zu stören, dass ich eine Mech war – das hieß natürlich nur, dass es den Figuren, die sie spielten, egal war.
Cally packte meine Schultern und knetete mit den Daumen das SynFlesh durch. »Du brauchst definitiv einen Kerl«, stimmte sie zu.
»Du bist viel zu verspannt.«
»Ich bin bloß müde«, rief ich zurück, mein Körper wippte noch immer im Takt der Musik; Arme, Beine, Hüften funktionierten auf Autopilot, während wir auf den Wellen des SynthMetal hin- und herhüpften. »Findest du es niemals … ermüdend?« Ich meinte damit nicht müde vom Tanzen. Und das wussten sie.
»Nein, nie«, antwortete Felicity und drehte sich auf der Stelle. Ihr rotes Haar bauschte sich wie eine Feuerwolke um ihren Kopf.
»Aber brauchst du nie …« Ich wählte meine Worte sorgfältig. Kameras oder Privatsphäre durften nicht erwähnt werden, nichts, was die kostbare, zerbrechliche VidLife-Blase zum Platzen bringen würde.
»… mal eine Pause?«
»Pause wovon denn? Das ist das Leben.« Pria kicherte, warf die Arme hoch und ließ sie wie Bänder im Wind flattern und wirbeln. Sie trat seit zwei Jahren ohne einen freien Tag in VidLifes auf und ich fragte mich, ob sie überhaupt noch wusste, was echt war und was Fake. Was würde sie tun, wenn die Stimme in ihrem Kopf verstummte und sie sich selbst überlassen wäre?
»Na los, such dir einen aus«, drängte mich Pria. Sie drehte mich langsam im Kreis, ihr Finger hüpfte von einem heulenden Typen mit dickem Bizeps und tränengefüllten Hundeaugen zu einem Albinoblonden und dann zu einem kunstvoll schmuddelig gestylten Typen mit nacktem Oberkörper, der total mit Xtase zugedröhnt war und zufällig wie ein Doppelgänger von Walker, meinem Org-Ex, aussah. Auf keinen Fall.
»Weißt du, ich hab schon –« Ich brach ab und rief mir in Erinnerung, dass Riley während dieser zwei Wochen nicht existierte – oder genauer gesagt, Riley und ich. Keiner wollte einen VidLifer, der eine Beziehung hatte, zumindest nicht mit jemandem, der nicht an der Show teilnahm, und schon gar nicht jemanden, der mit einem anderen Mech zusammen war, einem Trottel aus der Stadt, der noch nie einen Club von innen gesehen hatte oder, falls doch, den Abend in der Ecke gesessen hätte, still und stumm wie sein Stuhl. Es wäre natürlich etwas anderes gewesen, wenn Riley sich bereit erklärt hätte, das VidLife gemeinsam mit mir zu machen. Es hätte eine zugkräftige neue Show sein können, Mechs in Pärchen, eine Gruppe, die aufeinander abgestimmt und bereit und willens war vorzuführen, wie anatomisch korrekt – wie lustvoll, wie leidenschaftlich, wie menschlich – die Zombies sein konnten. Aber Riley wäre zu so etwas niemals bereit gewesen, also hatte ich ihn nicht gefragt.
Den da, entschied die Stimme in meinem Kopf für mich, als mein Blick auf einen punkigen Typen fiel, der ein paar Jahre älter war als ich und wild vor sich hintanzte. Auf seinem Irokesen steckten Nieten – silberne Armreifen umschlossen beide Arme vom Handgelenk bis zum Ellbogen. Die silbernen Abziehbilder auf seinem Hals wiesen ihn als Skinnerhead aus, als einen dieser Fetischtypen, die vorgaben, sich nach einem ewigen Leben als Mech zu sehnen – sich dann aber doch nicht so sehr danach sehnten, um sich tatsächlich das Hirn aufschneiden und in einen Computer laden zu lassen. MechTech zu tragen war der neueste Trend, zumindest bei denjenigen, die nicht durch die Straßen zogen und nach einem Mech Ausschau hielten, den sie verprügeln konnten. Manchmal trugen es aber auch die, die auf Schlägereien aus waren – es war ein schmaler Grat zwischen Liebe und Hass. Dieser Loser hielt sich eindeutig für superhip. Für irgendjemand draußen im Network war er deshalb
anscheinend mein perfektes Gegenstück. Na los, bagger ihn schon an.
Es brauchte nicht viel.
Mein Komm-rüber-Blick war eingerostet, aber er erfüllte seinen Zweck. Vielleicht lag es an dem stecknadelgroßen goldenen Licht in der Mitte meiner Pupillen, an den toten Mech-Augen, die unter dem Neon-Stroboskop aufl euchteten, an den neckischen kurzen Einblicken auf das SynFlesh unter dem FlashShirt, dessen Stoff ständig von durchsichtig zu blickdicht wechselte. Welcher Skinnerhead konnte schon einem Skinner widerstehen?
Ich liebe Riley, dachte ich, als der Skinnerhead anfi ng, seine Hüften an meinen zu reiben.
Aber: Sag ihm, dass du Lust auf ihn hast, befahl die Stimme in meinem Kopf.
»Ich will dich«, hauchte ich. Der Skinnerhead lächelte wie ein Wolf.
Er presste seine linke Hand – die Nägel waren selbstverständlich silbermetallic lackiert – auf meine nackte Schulter. Seine Finger tasteten sich meinen Rücken hinunter und ich hoffte, dass die Kameras
mein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen konnten. Er drehte mich herum, presste seine verschwitzte Brust an meinen Rücken, seinen Unterleib gegen meinen Hintern, schlang die Arme um mich, eine Hand umfasste meine Brust, die andere drückte meine Taille, seine Lippen berührten die Wölbung, wo mein Hals auf die Schulter traf, und er atmete meine künstliche Haut ein.
Riley und ich hatten darüber geredet. Wir hatten über die Verpflichtungen geredet, Pro und Contra abgewogen, Grenzen gesetzt. Grenzen ließen sich im Voraus allerdings schwer festlegen. Ausziehen war tabu, okay. Aber was war mit einem Rock, der kaum die Rundung meines Schenkels bedeckte, was war mit silbrigen Fingerspitzen, die unter die Netseide krochen, was war mit Beinen, die sich um Beine schlangen … Armen, die sich um Oberkörper schlossen … wie sah es mit Lippen aus?
Es ist bloß gespielt, hatte ich gesagt, hatten wir uns geeinigt, rief ich mir jetzt in Erinnerung. Es bedeutet nichts.
Seine Lippen lagen auf meinen. Saugten. Sabberten. Seine Zunge in meinem Mund, etwas Nasses und Fremdes erforschte weiche Stellen, an denen es nichts zu suchen hatte. Ich zählte bis zehn. Ignorierte die schmatzenden und klatschenden Geräusche, konzentrierte mich auf die Musik. Zählte bis zwanzig, schloss die Augen, als seine Zunge mein Kinn hinunterschlabberte, meine Wange hinauf,
mein Ohr erforschte, während sein Körper sich noch immer an meinem rieb, langsam, langsam, langsam, selbst als die Musik lauter und schneller wurde, ein Hurrikan aus Beats. Wir waren der Ruhepol in der Mitte. Ich zählte bis dreißig. Dachte an den Zweck des Ganzen und die Botschaft, die es vermitteln würde, eine weitere Schranke zwischen Mechs und Orgs würde fallen, es gäbe noch etwas, was wir gemeinsam hatten: Begehren, Bedürfnis, Sehnsucht. Dachte an den Computer, der mein Gehirn war, und den Körper, der bloß ein Körper war, an mechanische Gliedmaßen, durch die sich Drähte wanden, an falsche Nerven, die mich fühlen ließen, es jedoch nicht schafften, dass sich etwas echt anfühlte. Zählte bis vierzig, seine Zunge schmeckte nach nichts, denn ich konnte nichts schmecken; seine Haare, sein Hals, sein Schweiß rochen nach nichts, denn ich konnte nichts riechen. Ich zählte bis fünfzig, und als sich seine Lippen mein Brustbein hinab, zu dem dunklen Schatten darunter tasteten, warf ich meinen Kopf zurück und versuchte zu lächeln.
Dann kam ich bei sechzig an und stieß ihn so heftig weg, dass er rückwärtstaumelte, mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht zu halten, und in ein Kaffeekränzchen aufgedonnerter Tussen torkelte,
die sich gegenseitig abknutschten. »Muss mir für andere auch noch was aufheben!«, rief ich und ließ zu, dass die Menge sich zwischen uns drängte, und als er sich schließlich auf die Füße rappelte, war ich verschwunden.
»Lass uns über die Bruderschaft der Menschen sprechen.« Die Interviewerin setzte ein Süßstofflächeln auf. »Es sei denn, es ist zu schwierig für dich.«
Ich schüttelte den Kopf. Nach zwei Wochen im VidLife hatte »schwierig« eine neue Bedeutung angenommen; das hier zählte nicht dazu. »Ich bin hier, um zu reden«, erwiderte ich. »Über alles, worüber Sie reden möchten.«
»Wir alle kennen die Geschichte, wie es mit der Bruderschaft anfing«, fuhr die Interviewerin fort, danach ignorierte sie augenblicklich ihre eigenen Worte und erfreute uns mit sämtlichen Einzelheiten: wie der Ehrwürdige Rai Savona edelmütig danach gestrebt hatte, die Heiligkeit menschlichen Lebens zu bewahren; wie er zugunsten einer kleinen Organisation, die Basisarbeit gegen die Skinner leistete, auf den Thron der Faither verzichtet hatte, den Armen half, den Hungrigen zu essen gab und sich, zufälligerweise, dafür einsetzte, dass diejenigen ausgerottet würden, durch deren künstliche Adern künstliches Blut floss. Während sich die Interviewerin zu dem Teil vorarbeitete, an dem die Ereignisse einen »tragischen Verlauf« nahmen, leuchteten auf dem VidScreen hinter ihr Bilder auf: gekidnappte Mechs, an die Altarsäulen in Savonas Tempel gebunden, die »mysteriöse« Explosion am Außenrand des Tempelkomplexes, die Zerstörung einer Einrichtung, die es überhaupt niemals hätte geben dürfen – und dann das letzte Bild, Savonas rechte Hand, wie er vor der bewundernden Menge steht und sich für die Vergehen des höchsten Anführers entschuldigt. Wie er eine freundlichere, gütigere Bruderschaft unter seiner freundlicheren, gütigeren Führung verspricht. Im Kampf gegen die Skinner war Auden Heller die beste Waffe der Bruderschaft, denn sein zerstörter Körper, seine künstlichen Gliedmaßen und beschädigten Organe waren eine ständige Mahnung, welchen Schaden wir anrichten konnten.
»Lia, wie fühlte es sich an –«
Ich wappnete mich und wartete darauf, dass sie mir Fragen über Auden stellen würde, auch wenn man ihr erklärt hatte, dass er tabu war.
Oder über Riley, der bei der Explosion verbrannt, nun aber wieder zurück war, zwar in einem anderen Körper, aber mit demselben Gehirn, das bis auf die Erinnerung, wie er gestorben war, eine genaue Kopie aller Erinnerungen des früheren Rileys enthielt. Jeder Mech besaß einen Uplinker und wir benutzten ihn täglich, um für den Fall der Fälle eine Kopie unserer Erinnerungen auf einem sicheren Server zu speichern. Solange man sich jedoch nicht gerade in dem Moment hochlud, in dem der Körper zerstört wurde, konnte man sich daran nicht erinnern.
»– als Bruder Savona wieder auftauchte und sich BioMax stellte?«, beendete sie ihren Satz. Dann beugte sie sich vor, als warte sie darauf – falsch über meine technischen Einzelheiten informiert –, dass ich losheulte.
»Ich war überrascht.«
»Weil du zu denen gehörtest, die davon ausgingen, er wäre bei der Explosion gestorben?«
Gut, daraus ließ sich etwas machen.
Ich nickte und wünschte mir, ich könnte ehrlich antworten. Denn das Einzige, was mich überrascht hatte, war die Tatsache, dass ein feiger Irrer wie Savona sich auf der Eingangstreppe von BioMax niederließ und um Verurteilung bettelte. Das Einzige, was ich fühlte, war die Enttäuschung, dass er noch immer atmete.
»Und wie hast du dich gefühlt –« hier bitte ein Raubtierlächeln einfügen –, »als der Sicherheitsdienst des Konzerns ihn offi ziell von jeglicher Schuld an der Rolle freisprach, die er möglicherweise bei den unerfreulichen Ereignissen im Tempel gespielt hat?«
BioMax hatte eine offi zielle Darstellung der »unerfreulichen Ereignisse« veröffentlicht, wonach die Bruderschaftsfanatiker um Haaresbreite ein Gebäude plattgemacht hatten, in dem sich viele ihrer eigenen Leute aufhielten, von einer Handvoll unschuldiger Mechs ganz zu schweigen. (Selbst­verständlich waren es die Mechs, die um ein Haar all diese Orgs niedergemetzelt hätten. Da diese Art Wahrheit aber kontraproduktiv war, hielten wir alle den Mund.)
»Man muss Bruder Savonas früheres Benehmen gegen seine erklärte Bereitschaft abwägen, alles wieder­gut­zumachen.« Den Text auswendig zu lernen war einfacher gewesen, als ihn herauszuwürgen. »Bruder Savonas Stimme hat offensichtlich eine große Reichweite, und jetzt, wo ihm die Augen aufgegangen sind –«
»Du beziehst dich vermutlich auf seine Äußerungen, dass er bedauert, wie er die Skinner behandelt hat, und auf seine Zusicherungen, Toleranz zu üben? Glaubst du, es ist ihm mit dem, was er sagt, ernst?«
Ich glaubte, dass niemand Savona jetzt, da er für BioMax als Retter nützlicher war denn als Märtyrer, noch etwas anhaben konnte. Er war der Bruderschaft wieder als inoffi zieller Berater beigetreten – als rechte Hand seiner ehemaligen rechten Hand – und von uns wurde erwartet, dass wir vergaben und vergaßen.
»Wir ziehen es vor, als Mechs bezeichnet zu werden«, stellte ich der Interviewerin gegenüber klar. »›Skiner‹ ist abwertend.« Aus meinem Augenwinkel, knapp hinter dem Bereich, den die Kamera erfasste, sah ich, wie Kiri mit der Hand ein Warnzeichen gab. »Selbstverständlich«, erwiderte die Interviewerin. »Es tut mir leid.
Ich hatte nicht die Absicht –«
»Ich weiß.« Niemand hat je die Absicht. »Und um auf Ihre Frage zurückzukommen, Bruder Savona und Bruder Auden vermitteln eine Botschaft der Toleranz und Gleichheit, der wir hoffentlich alle vertrauen können. Ich möchte den Menschen bloß zeigen, dass Mechs nicht anders sind als alle anderen – wir sind völlig normal. Wenn uns die Bruderschaft dabei hilft, hat sie meine volle Unterstützung.«
»Du bist ein Mädchen mit einem großen Herzen«, bemerkte die Interviewerin.
Ich hätte sie an den drahtlosen Energieumwandler erinnern können, der es sich an der Stelle gemütlich machte, wo eigentlich mein Herz sein sollte. Aber ich ließ es sein.

Tag sieben.
Die Hälfte hatte ich hinter mir.
Ich kann nicht mehr.
»Du Schlampe!«, brüllte Cally und stürzte sich auf Pria. »Ist doch nicht meine Schuld, wenn du ihm nicht bieten konntest, was er wollte«, kreischte Pria und nahm Kampfhaltung an, um sich gegen die Blondine zu verteidigen, die auf sie losging. Sie duckte sich und packte Cally um die Knie, drehte sie auf den Kopf. Damit war Cally in der perfekten Stellung, sie in den Oberschenkel zu beißen.
Pria ging in die Knie.
Hände umklammerten ein Wirrwarr blonder Haare und rissen daran. Lila Nägel kratzten über blasse Haut. Sie zischten, sie schlugen sich, Zähne wurden gefletscht, Buckel gemacht, Spucke flog. Man hörte ein paar sehr undamenhafte Grunzer. Bald waren die beiden ineinander verhakt, sich windende Körper rollten wie eine riesige achtbeinige Bestie über den Marmorboden des Herrenhauses.
Manchmal endeten diese Kämpfe im Krankenhaus; manchmal im Bett (oder im Schrank, dem Pool, der Dusche, dem Vorleger – auf jeder denkbaren Oberfläche). Was immer die Zuschauer verlangten.
Jetzt, befahl die Stimme. Sag es ihnen.
»Ihr seid beide total bescheuert«, sagte ich. »Wollt ihr euch wegen Caleb den Schädel einschlagen? Nur zu.«
Die Stimme gab mir Anweisungen, aber – normalerweise – wählte ich die Worte selbst. Ein klitze­kleines Stückchen Freiheit in meinem Zombieleben.
»Wisst ihr, wem das wirklich gefallen wird?«, fügte ich hinzu. »Felicity. So kriegt sie ihn nämlich ganz für sich.«
Das sich windende Tier erstarrte, dann teilte es sich wieder in zwei einzelne Körper, jedes Auge, Ohr und Molekül konzentrierte sich auf meine nächsten Worte.
»Natürlich hat sie schon mit ihm rumgemacht«, fuhr ich fort.
»Dieses Miststück!«
»Diese Schlampe!«
»Dieses Flittchen!«
»Ich bring sie um.«
»Nur, wenn ich ihr nicht als Erste den Hals umdrehe.«
»Wenn du das versuchst, dann bring ich dich zuerst um.«
Die Wahrheit: Felicity hatte Caleb nie angerührt. Ich wusste nicht, ob ich log, weil ich ihn für mich haben wollte, weil ich Cally oder Pria für mich haben wollte oder weil ich Stunk anfangen wollte. Die Stimme würde es mir früh genug sagen und das wäre dann die neue Wahrheit.
Nachdem der Kampf fürs Erste eingestellt und Felicity dem Tode geweiht war, konnten wir uns dringlicheren Dingen zuwenden.
»Mini oder maxi?«, fragte Pria und hielt zwei Kleider vor ihren üppigen Körper. »Heute Nacht geht es im Chaos richtig ab und wir sind dabei.«
»Maxi«, erwiderte ich, »keine Frage.« Denn an diesem Tag sollte ich Pria hassen und in dem wogenden schwarz-weißen Kleid sah sie wie eine schwangere Kuh aus.
»Das ist mein Kleid!«, schnaubte Cally und riss es ihr aus der Hand.
Pria wirkte überrumpelt, allerdings nur einen Augenblick lang. Dann verwandelte sich ihr Gesicht – die Augen verengten sich zu Schlitzen, die Muskeln spannten sich an, ihre geschwollenen Lippen zogen sich leicht nach oben. Eine meisterhafte Andeutung blanker Bosheit. »Na und?«, knurrte sie. »Steht mir sowieso besser.«
Es ist dein Kleid, entschied die Stimme.
Also sagte ich es.
Dann fügte ich noch den Teil mit der schwangeren Kuh hinzu.
Und dann lag ich auf dem Boden, mein Haar in Prias Händen und meine künstliche Haut unter ihren Nägeln.
Viel Spaß beim Zerkratzen der Haut, dachte ich und verpasste ihr einen leichten unerwarteten Hieb, der ihr jede Menge Stoff für die Kameras liefern würde.
Man hatte mir erklärt, dass die Zuschauer auf Auseinandersetzungen standen.
Vor allem, wenn der Skinner verlor.

»Jeder Skinner – Entschuldigung, Mech – hat verständlicherweise ein belastetes Verhältnis zur Bruderschaft, aber ich wage zu behaupten, dass deines noch belasteter oder auf jeden Fall komplizierter ist als das der meisten«, behauptete die Interviewerin. »Immerhin ist ihr derzeitiger Anführer, Auden Heller, ein ehemaliger Klassenkamerad von dir, das stimmt doch, oder?«
Du weißt, dass es stimmt, du verlogenes Miststück.
Ich hätte Kiri nicht glauben sollen, als sie behauptete, die Interviewerin hätte meine Bedingungen akzeptiert. Hinter der Bühne lässt sich leicht erklären, dass über bestimmte Dinge nicht geredet wird – man lässt seinen heimtückischen Angriff lieber vom Stapel, sobald die Kamera läuft.
Ich lächelte.
»Ja. Wir sind ungefähr zehn Jahre lang zusammen zur Schule gegangen.«
»Und standet ihr euch nahe?«, fragte sie.
»Kurz.«
»Bis zu jenem Tag am Wasserfall –«
»Darüber rede ich nicht.«
»Das kann ich verstehen«, beschwichtigte sie und klang mitfühlend.
Sie tätschelte mein Knie.
Ich ließ sie gewähren. Ich ließ sie sogar die Wasserfallgeschichte herunterleiern und wie Auden um ein Haar gestorben wäre, als er versuchte, mich zu retten, den Skinner, der nicht gerettet werden musste. Meine Schuld, und deshalb – in seinen Augen und den Augen der gehirngewaschenen Massen der Bruderschaft – die Schuld jedes Skinners.
»Es muss so hart für dich sein«, sagte sie. »Du willst bestimmt mit ihm reden und dich für alles entschuldigen, was passiert ist. Gibt es etwas, was du ihm jetzt gern sagen würdest?«, fragte sie mit hungrigen Augen. »Irgendetwas?«
Ich würde nicht alles kaputt machen, indem ich vor laufender Kamera in die Luft ging. Zwei Wochen Elend würden nicht in die Tonne wandern, nur weil ich mir den Luxus von Selbstmitleid gönnte. Oder Privatsphäre. Letztere hatte ich für zwei Wochen aufgegeben, Ersteres ein für alle Mal. Aber ich konnte nicht gute Miene zum bösen Spiel machen.
Ich wandte den Blick kurz von der Kamera ab. Kiris Lippen bewegten sich, und als sei sie die Puppe eines Bauchredners, fing die Interviewerin zu sprechen an. »Sieht aus, als wäre unsere Zeit abgelaufen«, sagte sie steif. Erstaunlicherweise erstarrte der Schweiß, der ihr übers Gesicht lief, nicht zu Eis. »Es war uns ein Vergnügen, dich hier zu haben. Bitte komm wieder.«
Ich lächelte, als meinte ich es ehrlich. »Jederzeit.«
Vielleicht war ich ja trotz allem die bessere Schauspielerin.

Tag fünfzehn.
»Du hast es überlebt.« Kiri zog mich nach dem Interview weg. Das war Geheimsprache und bedeutete: Du hast es nicht vermasselt. Ich wusste nicht, ob sie das Interview oder die ganzen zwei Wochen meinte; ich war zu genervt, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen.

Noch eine Nacht, dann war ich frei.
Ich konnte ihr nicht dafür danken, dass sie mich gerettet hatte –sonst würden die Zuschauer erfahren, dass sie eingeschritten war. Also zog ich lediglich eine Augenbraue hoch und sie tat dasselbe.
Gern geschehen.
»Sie wollte mich dazu bringen, über mich selbst zu reden«, zwitscherte ich. »Gibt es etwas Besseres?« Das bedeutete in Geheimsprache: Ich weiß, ich bin schon tot … aber gib mir jetzt den Rest. Bitte.
»Aha, die Lia Kahn, die wir alle kennen und lieben«, erwiderte sie. »Bist du sicher, dass du nicht zu müde bist, um heute Abend auf diese Gala zu gehen?«
Eine Nacht mit großem Staraufgebot, mit der Crème de la Crème der High Society. Einer Crème, bei der man gefl issentlich übersah, dass sie mit saurer Milch zubereitet war. Wir wussten beide, dass es
nur eine akzeptable Antwort gab.
»Ich? Eine Party auslassen? Niemals.«

Niemand hatte mir gesagt, dass die Party unter Wasser stattfand.
Eine transparente Blase zog uns unter Wasser. Die Orgs waren fasziniert, drückten sich gegen die durchsichtigen Wände, beobachteten, wie Fische vorbeizogen und Algen gegen das Glas schlugen. Für sie war das alles neu, ein Abenteuer. Aber ich war durch die Tiefe geschwommen; ich kannte das Gefühl, mich im lautlosen Dunkel des Wassers zu verlieren.
Ich wusste, was sich unter der Oberfl äche des Meeres verbarg – ich hatte die toten Städte und die aufgedunsenen Körper gesehen – und ich wusste, dass nur Algen und Quallen in dem Badewasser aus
Giftschlamm überlebten. Die durchsichtige Kuppel war jedoch von einem kunstvollen falschen Ökosystem umschlossen, das glitzernde Wasser war sauber genug, um Regenbogenkorallenriffe und fluoreszierende Fischschulen zu erkennen. Es war das perfekte Ebenbild des protzigen Unterwasserspektakels, das in der Kuppel stattfand, synthetische Algen wogten aus dem Boden, funkelnde Lichter schwebten durch die Luft, Sterne hingen so tief, dass man sie mit einem Finger antippen und zusehen konnte, wie sie durch den Raum trieben, als schwämmen wir alle und die Schwerkraft wäre vorübergehend aufgehoben. Von jeder Oberfl äche wurden Holografien von Riffen und Wellenkämmen projiziert, nur wenn von Zeit zu Zeit ein tanzendes Paar hindurchschwebte, wurde die Illusion zerstört. Dank des Auftriebsgenerators unter dem Boden, der die Tänzer auf einem Luftkissen emporhob, schwebten sie tatsächlich. Die Party war eine Gala, normalerweise bedeutete das prachtvolle Märchenroben, aber dieses Mal war – bei denen, die besser Bescheid wussten als ich – ein eher maritimer Stil angesagt. Meerjungfrauen trieben auf schwebenden Plateauschuhen vorbei, ihr Haar war hoch aufgetürmt, damit es sich über ihren Köpfen bauschte. Es gab Haie, die so groß wie Orgs waren und mit den Zähnen knirschten, und es gab natürlich auch wieder ein paar, die sich Mühe gaben, besonders nuttig auszusehen. In diesem Fall waren es speziell verkabelte hautfarbene Bodys, die schimmernde Schuppen über nackte Bauchmuskeln, Oberkörper und Hinterteile projizierten.
Ich schlenderte umher und wartete auf meine Anweisungen, überlegte, was all diese Leute tun würden, wenn sie sähen, wie das Leben unter Wasser tatsächlich war, wie das Meer die Org-Welt verändert hatte: das bleiche, aufgedunsene Fleisch, die verrosteten Autos und zerbrochenen Fenster und der ganze Schutt eines Lebens, das ein jähes Ende gefunden hatte. Und dann stellte ich mir vor, wie die durchsichtige Kuppel über unseren Köpfen bersten würde, wie sich ein Spinnennetz aus zerbrochenem Glas über unserem Kuppelhimmel ausbreiten, wie das Wasser hereintropfen würde, als wäre es Regen, dann durchbräche – und wie schließlich ein Glashagel und ein Wasserschwall alles davonschwemmen würden. Ich stellte mir vor, wie die verkleideten Meerjungfrauen sich winden und um sich schlagen würden, gefangen in ihrem wirren Haar, wie sich ihre Wangen bei einem letzten Atemzug aufblähen, wie Blasen aus ihren Mündern und Nasen aufsteigen würden, bis ihnen schließlich die Luft ausginge. Ich stellte mir vor, wie ihre Leichname langsam an die Oberfl äche steigen, mich eine nach der anderen verlassen würde, bis ich mit dem Trümmerhaufen allein wäre. Als wäre ich der letzte Mensch beim Weltuntergang.
Ich verdrängte diese Vorstellungen aus meinem Kopf. Das war nicht meine Fantasie, sondern seine. Judes. Eine Welt, die von Orgs gesäubert wäre. Gereinigt, hätte er gesagt. Ich wollte nicht über die Dinge nachdenken, die er gesagt oder von denen er geträumt hatte, aber ich dachte daran und zwar öfter, als ich zugeben wollte.
Vielleicht hielt ich es deshalb zuerst für eine Einbildung.
Ein Schopf silberner Haare wippte über der Menge. Die rasierklingenscharfen Wangenknochen, das unerträgliche Grinsen. Zusammengekniffene goldene Augen, die mich eine unmögliche Sekunde lang ansahen, sich abwandten – und dann war er verschwunden.
Niemals da gewesen, redete ich mir ein und tanzte. Mein Mech-Gehirn nahm Musik als synkopierten Lärm wahr. Das Gefühl, alles loszulassen, mich mit Körper und Selbst in den hämmernden Klängen zu verlieren, gab es nicht mehr. Es gab nur noch lautlose Befehle vom Gehirn an die Gliedmaßen. Winde dich. Dreh dich. Spring. Winke. Lass die Füße schleifen. Wieg dich in den Hüften. Die Bewegungen schienen nahtlos ineinander überzugehen; das wusste ich, denn ich hatte vor dem Spiegel geübt. Es hatte sich herausgestellt, dass es nicht besonders schwierig war, sich eine glatte Oberfläche seines Ichs zuzulegen. Wenn man die Schritte kennt; wenn man weiß, welche Muskeln man anspannen muss; wenn man weiß, wie man lächeln und wie man sprechen muss; wenn man seinen Text kennt und seine Rolle spielt, dann ist es gleichgültig, was sich hinter der Pose verbirgt.
Die Hände, die sich über meine Augen legten, waren kalt.
Das Flüstern in meinem Ohr klang vertraut.
»Hab ich dir gefehlt?«
Denk dran, sie sehen zu.
Ich packte seine Handgelenke und bohrte meine Nägel hinein. Ich wusste, dass es ihn zum Lächeln bringen würde. Dann drehte ichmich langsam um, auf meinem Gesicht lag ein künstliches gefrorenes Lächeln. Genau wie auf seinem.
»Hatte nicht erwartet, dich so bald wiederzusehen«, bemerkte ich lässig.
Denn er war auf der Flucht, man warf ihm vor, ein Labor voller Orgs in die Luft gejagt zu haben. Ich wusste, dass er schuldig war, schließlich hatte ich ihm geholfen – und ihn gestoppt. Es war nicht unbedingt das sichere, harmlose Gesicht, das ich der Welt zeigen wollte.
Er nickte, seine Augen wanderten zu der FlyCam, die über meiner Schulter schwebte, und seine vollen Lippen zogen sich nach oben.
»Ich war die ganze Zeit da«, erwiderte Jude. »Vielleicht hast du nicht so darauf geachtet.«
Da Riley zusehen würde, verzog ich keine Miene. Riley, der nur die Geschichte kannte, die ich ihm erzählt hatte; ein Märchen, in dem er Jude niemals betrogen, niemals kalten Hass in den Augen seines besten Freundes gesehen hatte.
Wärst du nur für immer verschwunden, dachte ich.
Der Schlampenfisch entdeckte ihn und fing an, ihn eifrig zu umschwärmen. Mädchen, die sich nur durch ihre Haarfarbe voneinander unterschieden, rieben sich an ihm, und er sorgte dafür dass sie nicht aufhörten, grinste über die plumpe Flirterei, machte der einen schönen Komplimente über ihre Schuppen und einer anderen über ihre kunstvollen Flügel und verkniff sich erstaunlicherweise den Kommentar, dass Fische nicht fliegen können. Er zeigte ein merkwürdiges Talent, sie einzuwickeln, indem er ihnen seine Gunst bezeugte, sie mit einem Blick ansah, der tief genug war, um sie von dem besonderen Platz in seinem Herzen zu überzeugen, flüchtig genug, um noch Hoffnung in den Herzen der anderen zu schüren.
Den willst du heute Nacht, befahl mir die Stimme. Dann diktierte sie mir meinen ersten Satz.
»Hast du Lust zu tanzen?«
Bevor ich die Frage zu Ende bringen konnte, umschlangen mich schon Judes Arme und wir schwebten über die Tanzfläche.
»Dir gefällt also das Bonzenleben«, stellte ich vorsichtig fest. Jude drehte mich aus, aber unsere Finger waren so fest ineinander verschlungen, dass ich ihm nicht entkommen konnte.
»Warum sollte es mir nicht gefallen?« Wir tanzten Runde um Runde. Über unseren Köpfen funkelte das Licht und ahmte das Glitzern von Sonnenlicht auf dem Wasser nach. »Man sieht dir deine Freude, mich wiederzuhaben, richtig an.«
Ich konnte in diesen katzenhaft orangefarbenen Augen nichts erkennen. Ich wusste nur, dass er etwas wollte, Jude wollte schließlich immer etwas.
Es ist zu unser aller Wohl, behauptete er immer. Zum Wohl der Mechs, nicht etwa zu Judes Wohl. Es war also bloß ein Zufall, wenn es häufig auf dasselbe hinauslief.
»Wir haben viel zu besprechen.« Er neigte mich so weit nach hinten, dass mein Haar den Boden berührte.
»Ich steh momentan nicht so auf Reden.« Ich warf einen schelmischen Blick in die Kamera, die über unseren Köpfen surrte.
»Und die Welt seufzt erleichtert auf.«
»Du weißt ja: Reden wird überschätzt.«
Was bedeutete: Halt die Klappe.
Keine Anweisung, die er je befolgen würde. »Wenn du dich gesprächiger fühlst, gib mir Bescheid. Ich wohne anderthalb Kilometer hinter dem menschlichen Leid, wo die Natur wiederaufersteht.«
»Du bist ein Rätsel, das man in einen Schwachkopf gepackt und mit Überheblichkeit umhüllt hat«, antwortete ich, so zuckersüß ich konnte.
»Ist mir ein Vergnügen, wenn ich gefalle. Und da das bei dir nicht anders zu sein scheint –« Er warf noch einen Blick in Richtung der schwebenden Kameras. Ich erstarrte und wartete darauf, dass er irgendwelchen Anti-Org-Quatsch ablassen und meine ganze Arbeit zunichtemachen würde.
Er zog mich an sich, eine Hand lag fest um meine Taille, die andere umfasste meine Schulter. Seine Stimme war leise, aber die Mikrofone würden sie einfangen, so wie sie alles einfingen, und er wusste
es. »Komm, wir geben den Zuschauern, was sie wollen.«
Hätte ich gewusst, dass es passiert, hätte ich mich vielleicht wegducken können.
Vielleicht wusste ich, dass es passierte.
Ich duckte mich nicht.

Nur für die Kameras, redete ich mir ein.
Seine Lippen waren ebenso kalt wie meine, seine Augen offen, sie beobachteten mich.
Auch nicht anders als die anderen, redete ich mir ein.
Seine Lippen waren so weich.
Seine Brust war reglos, ein Hohlraum presste sich gegen die Leere meiner eigenen Brust. Wir passten perfekt zusammen.
Das ist harmlos, redete ich mir ein.
Es konnte höchstens ein paar Sekunden gedauert haben. Und dann erinnerte ich mich an das, was ich in den zwei Wochen beinahe vergessen hatte: dass ich schauspielern konnte, dass die Marionette ihre Fäden manchmal selbst ziehen konnte – und dass die Leute auf Streitereien standen.
Ich knallte ihm eine.
Er sah, dass es passieren würde, genau wie ich; und er ließ mich gewähren, genau wie ich ihn. Man hörte ein hartes Knallen, aber er verzog keine Miene. Auf der synthetischen Haut blieb keine wütende rote Strieme zurück. Sie sah aus, als sei nichts geschehen.
»Wenn du mich willst, weißt du, wo du mich findest«, flüsterte er.
Und ließ mich los. Er verschmolz mit der Menge, bevor ich ihn aufhalten konnte. Nicht dass ich es versucht hätte. Ich redete mir ein, es sei mein Wunsch, dass er ging, dieses Mal für immer.

Und fast glaubte ich es.

© 2010, by Robin Wasserman. | Deutsche Übersetzung: Claudia Max.

Online- Publikation der übersetzten Textauszüge mit freundlicher Genehmigung des script 5.
Publication of translated excerpts by courtesy of the script 5.