
Aus dem Amerikanischen von Claudia Max.
ab 14 | erschienen Oktober 2011, Loewe Verlag | 238 Seiten | ISBN 978-3-7855-7369-3
Keywords: Fantasy, Liebesgeschichte, Coming of Age, Jugendliteratur
Inhalt: Tristan versucht noch immer herauszufinden, wer Ivy umbringen wollte und vor allem warum. Nach und nach gelingt es ihm, als Ivys Schutzengel mit ihren Freunden Will und Beth zu kommunizieren und Ivy so vor neuen Gefahren zu warnen. Als Ivy eine Liebesbeziehung mit ihrem Stiefbruder Gregory eingeht, begibt sie sich erneut in tödliche Gefahr. Der Mörder schmiedet bereits neue Pläne. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Elizabeth-Chandler: Amazon
»Dieses Mal schaffe ich es, mit Ivy Kontakt
aufzunehmen«, sagte Tristan. »Ich muss sie warnen, ich
muss ihr erklären, dass der Zusammenstoß kein Unfall
war. Lacey, du musst mir dabei helfen! Ich kriege diesen
Engelkram einfach nicht auf die Reihe.«
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Lacey und lehnte
sich an Tristans Grabstein.
»Dann kommst du also mit?«
Lacey prüfte ihre Nägel, lange lila Nägel, die so wenig
abbrachen, wie Tristans dichte braune Haare je wieder
wachsen würden. Schließlich meinte sie: »Vermutlich
kann ich eine Stunde Poolparty noch irgendwie in meinem
Terminkalender unterbringen. Aber erwarte nicht
von mir, dass ich mich besonders engelhaft benehme.«
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Ivy stand am Beckenrand, sie hatte Gänsehaut, weil immer
wieder Wasser auf sie spritzte. Zwei Mädchen, hinter
denen ein Junge mit einer Wasserpistole herrannte,
streiften sie im Vorbeilaufen. Die drei klatschten in den
Pool und Ivy bekam eine kalte Dusche ab. Wäre das ein
Jahr zuvor passiert, hätte sie am ganzen Leib gezittert
und zu ihrem Wasserengel gebetet. Doch jetzt wusste
Ivy, dass es keine Engel gab.
Letzten Winter, als sie starr vor Angst – weil sie sich seit
ihrer Kindheit vor Wasser fürchtete – auf dem Sprungbrett
über dem Schwimmbecken der Schule hing, hatte
sie zu ihrem Wasserengel gebetet. Doch gerettet hatte sie
Tristan.
Er hatte ihr das Schwimmen beigebracht. Obwohl ihr
an jenem ersten Tag – genau wie an den Tagen darauf –
die Zähne geklappert hatten, hatte sie es geliebt, wie
sich das Wasser anfühlte, wenn Tristan sie hinter sich
herzog.
Sie hatte ihn geliebt, selbst als er ihr die Engel ausreden
wollte.
Er hatte recht gehabt. Und nun war Tristan tot, genau
wie Ivys Glaube an die Engel.
»Hast du Lust zu schwimmen?«
Ivy drehte sich schnell um und sah ihr sonnengebräuntes
Gesicht und ihre zerzausten blonden Haare in der
verspiegelten Sonnenbrille von Eric Ghent. Seine nassen
Haare waren zurückgekämmt und wirkten auf seinem
Kopf fast durchsichtig.
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»Leider haben wir kein Sprungbrett …«, fügte Eric
hinzu.
Sie überhörte die Stichelei. »Der Pool ist trotzdem
schön.«
»An diesem Ende ist er sogar ziemlich flach«, erwiderte
er, nahm die Sonnenbrille ab und ließ sie an einer
Kette auf seiner knochigen Brust baumeln. Erics Augen
waren hellblau und seine Wimpern so hell, dass es aussah,
als habe er überhaupt keine.
»Ich kann schwimmen – auch im tiefen Teil«, erklärte
Ivy ihm.
»Schon klar.« Eric zog einen Mundwinkel hoch. »Sag
Bescheid, wenn du Lust hast, zu schwimmen«, schlug er
ihr vor, dann ging er weiter, um sich mit seinen anderen
Gästen zu unterhalten.
Ivy hatte von Eric gar nicht erwartet, dass er sie netter
behandeln würde.
Auch wenn er sie und ihre zwei besten
Freundinnen zu seiner Poolparty eingeladen hatte,
gehörten die drei Mädchen nicht zur angesagten Clique
von Stonehill. Ivy war sich sicher, dass Beth, Suzanne
und sie nur deshalb dabei waren, weil Gregory – Erics
bester Freund und Ivys Stiefbruder – Eric darum gebeten
hatte.
Sie suchte die andere Seite des Pools, wo sich viele
sonnten, nach ihren Freundinnen ab. Zwischen einem
Dutzend eingeölter Körper und sonnengebleichter
Köpfe thronte Beth. Sie trug einen großen Hut und etwas,
das wie ein hawaiianisches Sommerkleid aussah,
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und redete auf Will O'Leary ein, einen Freund von Gregory.
Irgendwie hatten sich Beth Van Dyke, der es völlig
egal war, ob man sie cool fand, und Will, den alle für
ultracool hielten, angefreundet.
Die anderen Mädchen um sie herum strengten sich
an, sich der Sonne – oder Will – von ihrer besten Seite
zu zeigen, doch Will nahm keine Notiz von ihnen. Er
nickte Beth, die ihm vermutlich ihre neueste Idee für
eine Kurzgeschichte erzählte, ermutigend zu.
Ivy überlegte, ob Will auf seine stille Art gefiel, was
Beth schrieb – Gedichte und Geschichten. Einmal hatte
sie sogar für den Geschichtskurs eine Biografie von Maria
Stuart verfasst. Alles endete jedenfalls als schwülstige
Liebesgeschichte. Der Gedanke, dass Will auf so etwas
stehen könnte, entlockte Ivy ein Lächeln.
Genau in diesem Moment sah Will zu ihr herüber
und bemerkte ihr Lächeln. Sein Gesicht schien kurz
aufzuleuchten, was vielleicht nur an der Widerspiegelung
eines Sonnenstrahls auf dem Wasser lag, aber Ivy
wich trotzdem verlegen einen Schritt zurück. Ebenso
schnell versteckte Will sein Gesicht im Schatten von
Beths Hut.
Als sie zurückwich, spürte Ivy die nackte Haut einer
kühlen, durchtrainierten Brust hinter sich, doch statt
Ivy auszuweichen, beugte sich der Betreffende über ihre
Schulter und streifte mit seinem Mund ihr Ohr.
»Ich glaub, du hast einen Bewunderer«, zog Gregory
sie auf.
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Ivy drehte sich nicht weg. Sie hatte sich an ihren Stiefbruder
gewöhnt, an seine Angewohnheit, sie zu berühren,
seine Art, unerwartet hinter ihr aufzutauchen. »Einen
Bewunderer? Wen denn?«
Gregorys graue Augen lachten sie an. Er hatte dunkle
Haare, war groß, schlank und tief gebräunt, weil er jeden
Tag stundenlang Tennis spielte.
Auch wenn sie das noch im April nie für möglich gehalten
hätte, hatten Ivy und er im letzten Monat viel
Zeit miteinander verbracht. Damals war ihre einzige Gemeinsamkeit
der Schock gewesen, dass ihre Eltern geheiratet
hatten. Sie waren wütend aufeinander gewesen
und misstrauisch. Ivy verdiente mit siebzehn ihr eigenes
Geld und kümmerte sich um ihren kleinen Bruder. Gregory
hingegen düste in seinem BMW mit seinen coolen
Freunden durch Connecticut, und sie verachteten alle,
die nicht genauso reich waren wie sie selbst.
Doch im Vergleich zu dem, was sie gemeinsam durchgemacht
hatten – den Selbstmord von Gregorys Mutter
und Tristans Tod –, schien das nun nicht mehr wichtig.
Ivy hatte festgestellt, dass zwei Menschen, die unter einem
Dach leben, sich manche ihrer tiefsten Gefühle anvertrauen,
und überraschenderweise konnte sie mit Gregory
über ihre reden. Er war für sie da, wenn sie Tristan
am meisten vermisste.
»Einen Bewunderer«, wiederholte Ivy lächelnd. »Klingt
so, als hättest du eine von Beths Liebesgeschichten
gelesen.«
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Sie entfernte sich vom Pool und Gregory folgte ihr
wie ein Schatten. Ivy suchte schnell die Terrasse nach
ihrer ältesten und besten Freundin, Suzanne Goldstein,
ab. Um Suzannes willen wäre es ihr lieber gewesen,
wenn Gregory ein bisschen mehr Abstand gehalten
hätte.
Wenn er ihr doch nicht ständig etwas zuflüstern
würde, als hätten sie ein Geheimnis!
Suzanne war seit dem Winter hinter Gregory her und
Gregory hatte sie zur Jagd ermuntert. Suzanne behauptete,
sie wären nun offiziell zusammen. Gregory hingegen
lächelte und vermied jede Stellungnahme. Als Ivy
Gregory leicht berührte, um ihn ein Stück wegzuschieben,
öffnete sich die Glastür und Suzanne trat aus dem
Poolhaus. Sie blieb einen Moment stehen, als würde sie
sich umsehen und das lange saphirblaue Oval des Pools,
die Marmorstatuen und die Blumenbeete auf sich wirken
lassen.
Praktischerweise gab dieses Stehenbleiben sämtlichen
Jungs die Gelegenheit, sie anzustarren. Mit ihrer glänzenden
schwarzen Mähne und einem winzigen Bikini,
der mehr Schmuck als Kleidungsstück war, stach sie alle
anderen Mädchen aus, auch diejenigen, die schon lange
zu Erics und Gregorys Clique gehörten.
»Wenn hier jemand Bewunderer hat«, stellte Ivy fest,
»dann ist das Suzanne. Und wenn du schlau bist, gehst
du rüber, bevor noch zwanzig andere Typen Schlange
stehen.«
Gregory lachte bloß und strich Ivy eine blonde Strähne
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aus dem Gesicht. Ihm war natürlich klar, dass Suzanne
sie beobachtete. Sowohl Gregory als auch Suzanne standen
auf Spielchen, und Ivy wusste oft genug nicht, wie
sie sich verhalten sollte.
Suzanne kam mit katzenhafter Anmut schnell auf sie
zu, trotzdem wirkte es, als schlendere sie gemächlich.
»Toller Badeanzug!«, meinte sie zu Ivy.
Ivy sah sie fragend an und starrte überrascht auf ihren
Einteiler. Suzanne hatte sie begleitet, als sie den Badeanzug
gekauft hatte, und sie zu einem tiefer ausgeschnittenen
gedrängt. Aber natürlich wollte Suzanne mit der
Bemerkung nur Gregorys Aufmerksamkeit auf ihren eigenen
… Schmuck lenken.
»Steht dir echt klasse, Ivy.«
»Hab ich ihr auch schon gesagt«, sagte Gregory betont
liebenswürdig.
Er hatte bisher kein Wort über Ivys Badeanzug verloren.
Seine offensichtliche Lüge sollte Suzanne bloß eifersüchtig
machen. Ivy warf ihm einen bösen Blick zu,
doch er lachte nur.
»Hast du vielleicht Sonnenmilch dabei?«, fragte Suzanne.
»Ich kann echt nicht glauben, dass ich meine vergessen
habe!«
Auch Ivy fiel es schwer, das zu glauben. Die Masche
zog Suzanne schon ab, seit sie zwölf waren und Urlaub
im Strandhaus der Goldsteins gemacht hatten.
»Mein Rücken verbrennt hundertprozentig«, fügte
Suzanne hinzu.
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Ivy langte nach ihrer Tasche, die auf einem Stuhl lag.
Sie wusste, dass Suzanne in der Mittagshitze auf einer
Folie braten konnte und trotzdem keinen Sonnenbrand
bekam. »Bitte. Du kannst sie behalten. Ich hab genug
dabei.«
Damit drückte Ivy Gregory mit einem Seitenblick die
Tube in die Hand. Sie wollte davongehen,
aber er hielt sie am Arm fest. »Was ist mit dir?«, fragte er und seine
Stimme klang leise und vertraulich.
»Was soll mit mir sein?«
»Musst du nicht eingecremt werden?«, fragte er.
»Danke, alles bestens.«
Aber er ließ sie nicht los. »Man vergisst immer die
wichtigsten Stellen«, meinte er, während er Sonnenmilch auf
ihrem Nacken und den Schultern verteilte, seine
Stimme war so samtweich wie seine Hände. Er versuchte, einen
Finger unter einen Träger zu schieben, aber Ivy
hielt ihn fest. Allmählich wurde es ihr zu dumm. Garantiert
brannte bei Suzanne gerade was durch – auch wenn
die Sonne nichts damit zu tun hatte.
Ivy machte sich von Gregory los. In der Hoffnung,
man würde nicht erkennen, wie wütend sie war, setzte
sie schnell ihre Sonnenbrille auf und hastete davon.
Sollten sich die beiden in aller Ruhe gegenseitig necken
und ärgern – allein!
Beide benutzten Ivy, um beim anderen zu punkten.
Warum verschonten sie sie nicht mit ihren blöden kleinen
Spielchen?
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Du bist eifersüchtig!, tadelte sie sich. Du bist bloß eifersüchtig,
weil sie einander haben, während du Tristan
verloren hast.
Neben einem Grüppchen fand sie einen freien Liegestuhl
und ließ sich darauffallen. Der Junge und das
Mädchen neben ihr beobachteten interessiert, wie Suzanne
Gregory in eine Ecke führte, wo zwei Liegen abseits
von den anderen standen. Sie tuschelten, während
Gregory Sonnenmilch auf Suzannes makellosem Körper
verteilte.
Ivy schloss die Augen und dachte an Tristan und an
ihre Pläne, zusammen an den See zu fahren, wo sie sich
in der Mitte treiben lassen wollten, während die Sonne
auf ihren Zehen und Fingerspitzen glitzerte. Sie dachte
daran, wie Tristan sie in der Nacht des Unfalls auf der
Rückbank geküsst hatte. Sie erinnerte sich an die Zärtlichkeit
des Kusses, die Art, wie Tristan ihr Gesicht staunend
und beinahe ehrfürchtig berührt hatte. In seinen
Armen hatte sie sich nicht nur geliebt gefühlt, sondern
wie etwas, das ihm heilig war.
»Du warst immer noch nicht im Wasser.«
Ivy öffnete die Augen. Offenbar würde Eric sie erst in
Ruhe lassen, wenn sie ihm bewies, dass sie mit Wasser
kein Problem hatte.
»Ich hab gerade überlegt, ob ich reingehen soll«, sagte
sie und nahm ihre Sonnenbrille ab, während er am
Beckenrand auf sie wartete.
Ivy war froh, dass Eric wenigstens auf seiner eigenen
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Party nüchtern blieb. Aber vielleicht glich er sein Nüchternbleiben
auf diese Weise aus. Wenn er keinen Alkohol
trank oder Drogen nahm, war dies Erics Art, sich zu
amüsieren: Er testete die wunden Punkte anderer Leute
aus.
Ivy ließ sich ins Wasser gleiten. Als es ihr bis zum Hals
reichte, überkam sie im ersten Moment die alte Panik.
»Genau das macht Mut aus«, hatte Tristan gesagt, »man
muss sich dem stellen, wovor man Angst hat.« Mit jedem
Zug entspannte sie sich ein wenig mehr.
Sie schwamm einmal durch den ganzen Pool, dann
wartete sie am tiefen Ende auf Eric. Er war ein erbärmlicher
Schwimmer.
»Nicht übel«, meinte Eric, als er bei ihr ankam. »Für
eine Anfängerin bist du nicht schlecht.«
»Danke«, erwiderte Ivy.
»Du bist nicht mal außer Atem.«
»Anscheinend bin ich ganz gut in Form.«
»Überhaupt nicht außer Atem«, wiederholte er. »Als
wir noch klein waren, haben Gregory und ich im Ferienlager
immer ein Spiel gespielt.«
Er hielt kurz inne und Ivy vermutete, dass er gleich
vorschlagen würde, es jetzt zu spielen. Dabei wäre sie so
viel lieber am anderen Ende des Beckens gewesen, wo
es flach war, die Bäume keinen Schatten warfen und wo
die meisten anderen jetzt hin und her wateten oder
herumsaßen.
»Um auszuprobieren, wie lange jemand die Luft
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anhalten kann«, erklärte er ihr. Er redete, ohne sie anzusehen.
Eric sah selten jemand in die Augen.
»Du musst unter Wasser tauchen und so lange unten
bleiben, wie du kannst, und der andere stoppt die Zeit.«
Was für ein dämliches Spiel!, dachte Ivy. Aber sie ließ
sich darauf ein, denn je eher sie ihm seinen Wunsch erfüllte,
umso eher wäre sie ihn los.
Eric tauchte schnell unter und hielt seinen Arm über
Wasser, damit sie auf seine Uhr schauen konnte. Er blieb
eine Minute und fünf Sekunden unten, dann kam er
schnaufend an die Oberfläche. Nun holte Ivy tief Luft
und tauchte unter. Sie zählte langsam mit – eintausendeins,
eintausendzwei … – sie würde ihn schlagen. Während
sie die Luft anhielt, beobachtete sie, wie ihre Haare
um sie herumtrieben. Das Wasser war stark gechlort
und sie hätte gern die Augen geschlossen, aber irgendeine
innere Stimme warnte sie, dass sie Eric nicht trauen
konnte.
Als sie schließlich auftauchte, meinte er: »Gar nicht
schlecht! Eine Minute und drei Sekunden.«
Sie hatte eine Minute und fünfzehn gezählt.
»Jetzt kommt der nächste Schritt«, erklärte er. »Wir
versuchen, ob wir es länger aushalten, wenn wir zusammen
abtauchen. So feuern wir uns quasi gegenseitig an.
Fertig?«
Ivy nickte zögernd. Danach würde sie aus dem Wasser
gehen. Eric starrte auf seine Uhr. »Auf drei. Eins, zwei –«
Plötzlich zog er sie unter Wasser.
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Ivy hatte keine Luft holen können. Sie versuchte, sich
zu befreien, aber Eric ließ sie nicht los. Sie schlug mit
den Händen nach ihm, doch er packte sie an den Oberarmen.
Ivy fing zu würgen an. Als Eric sie nach unten gezogen
hatte, hatte sie Wasser geschluckt und musste nun husten,
als sie versuchte, ihre Lungen freizubekommen –
doch bei jedem Versuch schluckte sie noch mehr Wasser.
Eric hielt sie wie im Schraubstock umklammert.
Ivy wollte nach ihm treten, aber er wich ihr aus und
lächelte sie mit zusammengekniffenen Lippen an.
Das macht ihm auch noch Spaß!, dachte sie. Er findet
das lustig. Er ist wahnsinnig!
Ivy bemühte sich, sich von ihm loszumachen. Ihr Magen
krampfte sich bereits zusammen und sie zog die
Knie an. Ihre Lungen fühlten sich an, als würden sie jeden
Moment platzen.
Plötzlich verzog Eric das Gesicht. Er drehte sich so
schnell zur Seite, dass er Ivy mit sich riss. Dann ließ er
sie los. Keuchend und prustend kamen sie an die Oberfläche.
»Du Idiot! Du dämlicher Idiot!«, brüllte Ivy. Ihr Husten
hielt sie von weiteren Beschimpfungen ab.
Eric setzte sich auf den Beckenrand, sein Gesicht war
bleich, während er sich die Seite rieb. Als er die Hand
wegnahm, bemerkte Ivy rote Striemen – dünne blutige
Streifen, als hätte ihn jemand mit langen, spitzen Fingernägeln
gekratzt.
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Eric sah sich fahrig um, sein Blick war matt und unkonzentriert.
Dann drehte er sich zu Ivy und sein Gesicht
wirkte fast so verzerrt wie kurz zuvor unter Wasser.
»Das war doch bloß ein Spiel«, sagte er.
Von der anderen Seite des Pools rief jemand nach ihm.
Viele gingen ins Haus. Er stand langsam auf und lief
Richtung Poolhaus, während Ivy am Beckenrand zurückblieb
und tief Luft holte. Sie wusste, dass sie jetzt unbedingt
im Pool bleiben musste. Sie musste warten, bis sie
wieder gleichmäßig atmen konnte und dann ein paar
Bahnen schwimmen. Dank Tristan hatte sie ihre Angst
überwunden und sie würde nicht zulassen, dass Eric ihr
das wieder nahm. Also schwamm sie los.
Als Ivy am anderen Ende ankam und zur Wende für
die nächste Bahn ansetzte, griff Beth ins Wasser und
hielt sie am Knöchel fest. Ivy drehte sich um und sah,
wie Beth am Beckenrand ins Schwanken geriet. Ihr breitkrempiger
Hut rutschte ihr ins Gesicht. Zum Glück kam Will bereits angerannt,
um Beth von hinten festzuhalten.
»Was ist los?«, fragte Ivy, lächelte Beth an und bedachte
Will mit einem verlegenen Blick.
»Alle gehen rein, um sich Videos anzuschauen«, erklärte
ihr Beth enthusiastisch. »Ein paar davon wurden
dieses Jahr an der Schule gedreht, manche nach der
Schule bei Basketballspielen und …« Beth redete nicht
weiter.
»Schwimmwettkämpfen«, beendete Ivy den Satz für sie.
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Vielleicht könnte sie noch einmal sehen, wie Tristan
Schmetterling schwamm.
Beth trat vom Beckenrand zurück und drehte sich zu
Will um. »Ich bleib noch ein bisschen draußen.«
»Aber nicht meinetwegen, Beth«, bat Ivy. »Ich –«
»Hör zu«, unterbrach sie Beth. »Wenn alle im Haus
sind, kann ich endlich diesen weißen Luxuskörper entblößen
und muss mir keine Sorgen mehr machen, dass
sie alle schneeblind werden.«
Will lachte leise und sagte etwas, das anscheinend nur
für Beths Ohren bestimmt war.
Will war wirklich ein netter Typ, aber Ivy hätte es ihm
nicht übel genommen, wenn er – nach der Szene, die
sie ihm letzten Samstag gemacht hatte – sauer auf sie
gewesen wäre. Er hatte Bilder von Engeln gezeichnet –
auf einem hatte Tristan als Engel die Arme um Ivy geschlungen.
Sie hatte es zerfetzt.
»Geh ruhig rein und schau dir mit den anderen die
Videos an, Beth«, sagte Ivy bestimmt. »Ich will noch ein
bisschen schwimmen.«
Da beugte sich Will zu ihr herunter. »Du solltest nicht
allein schwimmen, Ivy.«
»Das hat Tristan auch immer gesagt.«
Will warf ihr einen Blick zu, der Bände sprach.
Seine Augen glichen dunkelbraunen Teichen, sie waren
tief und dunkel genug, um darin zu versinken. Tristan
hatte hellbraune Augen gehabt, trotzdem waren
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seine und die von Will ähnlich. Etwas darin zog Ivy magisch an.
Schnell drehte sie sich weg und holte Luft. Da landete
auf einmal mit sanftem Flügelschlag ein bunter Schmetterling
auf ihrer Schulter.
»Ein Schmetterling!«, rief Beth und plötzlich mussten
sie alle an Tristan denken. Er war der beste Schmetterlingsschwimmer
der Schule gewesen.
Ivy versuchte, das Insekt abzuschütteln. Es flatterte
mit den Flügeln, rührte sich aber überraschenderweise
nicht vom Fleck.
»Er hält dich für eine Blume«, meinte Will und seine
Augen leuchteten.
»Vielleicht«, erwiderte Ivy und wollte bloß so schnell
wie möglich von ihm und Beth weg. Also stieß sie sich
vom Beckenrand ab und schwamm los.
Sie schwamm Bahn um Bahn, und als sie schließlich
müde wurde, schwamm sie in die Mitte des Pools und
ließ sich auf dem Rücken treiben.
Es ist ein tolles Gefühl, Ivy. Kannst du dir vorstellen, auf
einem See zu treiben, um dich herum Bäume und die große
blaue Kuppel des Himmels über dir? Du treibst auf der Wasseroberfläche,
die Sonne glitzert auf deinen Fingerspitzen und Zehen.
Die Erinnerung an Tristans Stimme war so intensiv,
dass Ivy glaubte, sie in diesem Moment laut und deutlich
zu hören. Wie konnte die große blaue Himmelskuppel
immer noch dort oben sein? Sie hätte bersten
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sollen wie die Windschutzscheibe in der Nacht des Unfalls,
aber sie war da – unverändert.
Ivy erinnerte sich daran, wie sie sich im Wasser auf den
Rücken gelegt hatte, und fühlte Tristans Arm unter sich,
als er ihr das Treibenlassen beigebracht hatte. »Ganz locker,
lass es einfach zu«, hatte er gesagt.
Sie hatte es zugelassen, hatte die Augen geschlossen
und sich vorgestellt, sie befände sich in der Mitte eines
Sees. Als sie die Augen öffnete, hatte er zu ihr heruntergeblickt,
sein Gesicht hatte wie die Sonne gestrahlt und
sie gewärmt.
»Ich schwebe«, hatte Ivy damals geflüstert und sie flüsterte
es auch jetzt.
Du schwebst.
Schwebst …
Sie hatten es einander von den Lippen abgelesen, und
einen Moment lang glaubte Ivy selbst jetzt noch, ihn
über sich zu spüren – schwebst – ihre Lippen waren sich
so nah, so nah …
»Gib sie her!«
Ivy hob den Kopf und ging unter. Schnell wischte sie
sich das Wasser aus den Augen.
In diesem Moment flog die Tür des Poolhauses auf
und Gregory rannte über den Rasen, in den Händen
hielt er etwas aus schwarzem Stoff. Aus seinen Haaren
fielen merkwürdige weiße Klumpen. Hinter ihm her
flitzte Eric, der mit einer Hand Beths Hut umklammert
hielt – das Einzige, womit er sich bedecken konnte. In
der anderen schwang er ein langes Küchenmesser. »Du
bist ein toter Mann, Gregory!«
»Hol sie dir!«, stachelte Gregory ihn an und hielt Erics
Badehose in die Höhe. »Komm schon. Streng dich ein
bisschen an!«
»Das zahl ich dir heim, du –«
»Klar doch«, zog ihn Gregory auf.
Plötzlich blieb Eric stehen. »Ich krieg dich, Gregory!«,
warnte er ihn. »Ich krieg dich, wenn du am wenigsten
damit rechnest!«
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© 2011, by Elizabeth-Chandler | Deutsche Übersetzung: Claudia Max.
Online- Publikation der übersetzten Textauszüge mit freundlicher Genehmigung des Loewe Verlag.
Publication of translated excerpts by courtesy of the Loewe Verlag.